Das Projekt
Eine Einführung

Gerechtigkeit in der Raumplanung. Knapp anderthalb Jahre nun haben wir uns mit diesem Thema auseinandergesetzt. Was begonnen hat als eine leicht süffisante, weil utopische Vorstellung, hat sich im Laufe eines Jahres gewandelt in Wut, weil unerklärbar. Weil wir gemerkt haben, dass, so wie wir heute Raumplanung in der Schweiz betreiben, wir gar keinen Einfluss darauf haben, ob sie nun gerecht sei oder nicht.

Die planerische Ausbildung unterrichtet Raumplanung als Kompromissfindung. Als Interessensabwägung. Doch die Spielregeln sind klar, die Rollen altbekannt und die Machtverhältnisse der Akteur*innen in klimaschädlichen Beton gegossen. Wer plant den eigentlich? Wir richten uns an Vorgaben, die wir einfach so hinnehmen und es nicht wagen, sie zu hinterfragen. Wachstum? Wird halt so passieren und brauchen wir für die Wirtschaft.

Die Raumplanung in der Schweiz hat ihre Leitfunktion verloren. Wir besitzen keine Gestaltungsmacht mehr, sondern sind Dienstleistende und Auftragsnehmende. Wir sind Marktzwängen ausgeliefert, die uns unsere professionellen Träume rauben. Wir sind in unserer entwerferischen Freiheiten beschnitten. Wir dürfen keine unangenehme Lösungen mehr entwerfen. Das löst eine Ohnmacht aus.

Und doch wüssten wir es alle ja eigentlich besser. Die Herausforderungen, die uns als Gesellschaft gegenüberstehen, sind klar. Wer streitet ab, dass Handlungen gegen den Klimawandel gestern schon statt morgen hätten passieren sollen? Dass die Mieten in den Städten und gewissen Agglomerationen mittlerweile so hoch sind, dass Gesellschaftsgruppen segregiert werden und soziale Spannungen entstehen? Eine Gesellschaft profitiert nicht dann, wenn jeder für sich schaut, sondern dann, wenn alle für alle schauen. Und hier steht die Raumplanung in der Pflicht.

Für uns Planer*innen heisst das konkret, dass wir:

  • In der Pflicht stehen, für eine Gesellschaft und das Klima und nicht für Einzelinteressen einzustehen
    • Und deshalb bereit sind, diese Interessen auch zu vertreten, sollten es die betroffenen Stimmen aus ihrer Position aus nicht schaffen, sich Gehör zu verschaffen
  • Bestehende Systemverhältnisse, Prognosen und rechtliche Voraussetzungen nicht als Umstände hinnehmen müssen,
    • Sondern bereit sind sie zu hinterfragen und aktiv weiterzuentwickeln
  • Und dass wir uns solidarisch gegen Untergrabungsversuche gegen unsere demokratischen Strukturen, mit dem Ziel, Einzelinteressen über Geweinwohl zu stellen, wehren.

Das ist keine Anfeindung an die bestehende Praxis. Das sind keine radikalen Gedanken. Das sind Gedanken, die wir im Jubiläumsjahr mit euch formuliert haben. Das ist ein Weckruf. Werden wir aktiv! Gestalten wir mit, statt das wir nur ausführen, zum Beispiel bei der Überarbeitung des Raumkonzepts. Glauben wir daran, dass wir etwas verändern können.

Eure Jungplanende.

Fünf Thesen haben wir entwickelt und mit euch besprochen: Zuerst als Jungplanende unter uns, dann an der FSU-Mitgliederversammlung und zuletzt an der KPK-Jubiläumsveranstaltung.

„Prekäre Verhältnisse werden in der Schweiz als Teil des Systems hingenommen.“

„Die Verkehrswende ist eine Chance, eine gerechtere Mobilität für alle zu ermöglichen und mehr Kostenwahrheit im Verkehr zu realisieren.“

„Der Vielfalt und Diversität der Gesellschaft wird in den angestammten demokratischen Prozessen gegenwärtig in ungenügendem Masse Rechnung getragen.“

„Das derzeitig gültige Gesellschaftssystem ist nicht geschaffen für mehr Beteiligung, da sie zu mehr Ausgrenzung führt.“

„Privateigentum und das gesellschaftliche Verständnis von Gerechtigkeit sind unvereinbar.“

Zu jeder These werden InteressensvertreterInnen eingeladen, ein Essay zu verfassen. Die Essays stehen für sich und wurden vom Projektteam inhaltlich nicht redigiert. Das Projektteam stellt die Plattform um die Meinungen, die die Essays wiedergeben, zu diskutieren.

Das Projektteam bedankt sich herzlich für die Beiträge, die im Sommer/Herbst des Jubiläumsjahres entstanden sind. Zusätzlich gilt ein grosser Dank der KPK, dass sie uns dieses Projekt ermöglicht hat.

 

Weitere Infos zum Projekt | Selber mitdiskutieren

Verkehr und Raumplanung:
Den Teufelskreis durchbrechen

Silas Hobi
Silas Hobi

UmverkehR

Der Autoverkehr verursacht enorm hohe Kosten. Mit knapp zehn Milliarden ist der private motorisierte Verkehr für 71 Prozent der externen Kosten des Verkehrs verantwortlich. Das bedeutet, dass die Allgemeinheit wegen des Autoverkehrs jedes Jahr knapp zehn Milliarden bezahlt. Diese Kosten werden nicht von den Verursachenden getragen. Es handelt sich dabei um Gesundheitskosten wegen Lärm oder Luftverschmutzung, um Klimafolge- oder Unfallkosten.

Sozialpolitisch besonders bedenklich ist, dass Personen mit hohem Einkommen mehr Autos besitzen und mehr Kilometer zurücklegen. Salopp gesagt: Personen mit tiefen Einkommen bezahlen die freie Fahrt der Oberschicht. Denn wer es sich leisten kann, vermeidet es, an stark befahrenen Strassen zu leben. Wer es sich nicht leisten kann, hat kein Auto. Fazit: Wer an Hochleistungsstrassen lebt und täglich Lärm, Abgasen und Feinstaub ausgesetzt ist, hat häufig selbst kein Auto, muss die gesundheitlichen Konsequenzen aber selbst berappen.

Trotzdem plant der Bundesrat aktuell über 4 Milliarden in den Ausbau von Autobahnen zu investieren – zusätzlich zu den über 11 budgetierten Milliarden für den Bau, Unterhalt und Betrieb des Nationalstrassennetzes von 2022-2027. Das Problem ist die zweckgebundene Finanzierung des Strassenbaus aus der Mineralölsteuer. Wird mehr Auto gefahren, spült es mehr Geld in die Kasse und damit können mehr Strassen gebaut werden, was wiederum zu mehr Autoverkehr führt. Aus diesem Teufelskreis auszubrechen, wird eine entscheidende Herausforderung zur Lösung der Verkehrsprobleme sein. Wichtig ist insbesondere, die zweckgebundenen Gelder umzulagern. Gelingt es uns, die Milliarden aus der Mineralölsteuer für die Förderung des ÖV, des Fuss- und Veloverkehrs einzusetzen, kann die Verkehrswende stark beschleunigt werden.

Das wirkt sich auch im Hinblick auf raumplanerische Ziele positiv aus. Denn der Verkehr formt den Raum und steht in einer Wechselwirkung mit der Raumplanung. Tatsache ist, dass seit der Nachkriegszeit Städte und Strassenräume auf das Auto ausgerichtet wurden. Die Popularität des Autos nahm zu, weil im Zuge der Wachstumsbestrebungen die Räume für Arbeit, Wohnen und Freizeit künstlich voneinander getrennt wurden. In einem unglaublichen Tempo wurden Neubauten auf der grünen Wiese erstellt und autogerechte Städte gebaut. Das Auto etablierte sich als Symbol des Fortschritts, des Wohlstands und hoher Wachstumsraten schlechthin. Die Folge sind mehr Pendlerverkehr, Stau und Verkehrsüberlastungen in Städten, Agglomerationen aber auch auf dem Land. Die Staukosten werden mittlerweile auf über 3 Milliarden Franken beziffert.

Durch die attraktivere Verkehrsinfrastruktur (Strasse und Schiene) sind peripherere Gemeinden wie beispielsweise Uster oder Wetzikon stark angewachsen. Die Bevölkerung solcher Agglomerationsgemeinden sieht sich allerdings immer noch häufig als "Dorf", auch wenn diese mittlerweile durchaus städtischen Charakter haben und sich auch offiziell als Stadt bezeichnen. Die Schweiz versteht sich nach wie vor als Alpenland und der dörflich geprägte Geist überwiegt. Das muss sich künftig ändern. Die Schweizer Bevölkerung muss viel städtischer denken. Die Verkehrsplanung muss ebenfalls "städtischer" werden. Insbesondere auch in kleineren Agglomerationen müssen der öffentliche Verkehr gestärkt und die Strassenräume für den Fuss- und den Veloverkehr attraktiver werden.

Das wird erschwert, weil Gemeinde- und teilweise auch Kantonsgrenzen inzwischen überholt und für die Raumplanung ein Hindernis sind, da Agglomerationen weit über diese Grenzen hinaus reichen. Burgdorf bildet beispielsweise mit Nachbargemeinden eine kleine Agglomeration, d.h. dass aus diesen Gemeinden ein erheblicher Teil nach Burgdorf (und nicht etwa nach Bern) pendelt. Dennoch gibt es im Tarifverbund Libero keine entsprechend zugeschnittene Zone mit einem für diese kleine Agglomeration adäquaten Preis für ein Monatsabo. Als Minimalpreis bezahlt man so viel wie für die Strecke nach Bern.

Hinsichtlich einer umweltfreundlichen Verkehrspolitik rächt sich die Siedlungsentwicklung der letzten Jahrzehnte. Der Einfamilienhäuserbrei im Mittelland wurde einerseits durch das Auto ermöglicht und hat andererseits eine grosse Abhängigkeit vom Auto geschaffen. Einkaufszentren in der Peripherie, Tiefgaragen, breite Strassen und Parkplätze sind in Beton und Asphalt gegossene Tatsachen, welche andere Fortbewegungsformen einschränken und eine Verkehrswende erschweren. Denn für einen attraktiven ÖV braucht es eine gewisse Siedlungsdichte. Erst dann kann er effizient betrieben werden und mit einem dichten Haltestellennetz und einem gut getakteten Fahrplan dem Auto den Rang ablaufen.

Darum kann festgehalten werden: Beim Vollzug des Raumplanungsgesetzes hapert es noch. Weil ein Gesetz immer nur so gut ist, wie die Verantwortlichen es umsetzen – Bund – Kantone – Gemeinden. Gerade auf der untersten Ebene sind am wenigsten Fachleute vertreten und die Eigeninteressen (z.B. Einzonungen) am grössten. Da wird Raumplanung doch eher als lästiger Eingriff in die eigene Autonomie gesehen. Die Raumplanung ist immer am Föderalismus gescheitert.

Allerdings sollte man auch keine übermässigen Erwartungen schüren: Die Schweiz wurde schon vor 250 Jahren als zersiedelt wahrgenommen: 3000 Gemeinden und kein wirkliches Zentrum führen nun mal zu einer dezentralen Besiedlung. Und allen Unkenrufe zum Trotz: Im Vergleich zu Nachbarländern wie Italien oder Frankreich ist die Raumplanung in der Schweiz weit voraus!

Glücklicherweise können wir in der Schweiz auf das weltweit beste Bahnnetz setzen. Über 1000 Bahnhöfe können zu Mobilitätsdrehscheiben und belebten Zentren entwickelt werden. Der öffentliche Verkehr ist aufgrund seiner Flächeneffizienz in der engen und dicht besiedelten Schweiz äusserst wertvoll. Und in diesem Punkt schneidet das Auto gegenüber allen anderen Fortbewegungsformen deutlich schlechter ab. Der grosse Platzverbrauch der immer grösser werdenden Autos ist gerade in den Städten ein zunehmendes Problem. Entsprechend kommt der hegemoniale Anspruch des Autos auf der Strasse unter Druck.

Mit der «Stadt der kurzen Wege» und der Aufwertung von Quartieren können wir den Verkehr stark reduzieren, ohne die Mobilität einzuschränken. Sinnvollerweise müsste ein Teil der Gelder aus dem Agglomerationsprogramm in eine Siedlungsentwicklung der gemischten Quartiere und kurzen Wege investiert werden. Autofreie Siedlungen wie die Kalkbreite in Zürich, Oberfeld in Ostermundigen, Erlenmatt Ost in Basel oder die Giesserei in Winterthur müssen zum Standard werden. Denn die von der Raumplanung propagierte «Innenentwicklung» ist der Königsweg für die Verkehrswende. Sie reduziert die Personenkilometer bei gleichbleibender Mobilität. Gleichzeitig müssen aber die Aussenräume entsprechend attraktiv sein, damit sie von der Bevölkerung angenommen werden. Wenn man in Fussgängerdistanz Freunde treffen, einkaufen, kulturelle Veranstaltungen besuchen, arbeiten und Sport treiben kann, wird das Auto zum teuren Ballast, der abgestossen wird.

Eine Verkehrswende, weg vom platzintensiven Auto hin zu gesünderen und nachhaltigeren Verkehrsträgern, weg von einer autozentrierten Planung hin zu Quartieren mit grosser Wohnqualität, trägt definitiv zu einer gerechteren Mobilität für alle und mehr Kostenwahrheit bei. Sie ist eine Chance, dass unsere Siedlungen wieder aufblühen. Und die Raumplanung kann bei einer konsequenten Anwendung und einer weitsichtigen Investition von Bundesgeldern massgeblich dazu beitragen. Damit die Verkehrswende Realität wird, müssen wir aber den für den Strassenbau zweckgebundenen Mineralölsteuer-Teufelskreis durchbrechen.

[1] Graf, Manuel (2010): Rechts eingereicht, links getragen, klar verworfen. In: Linder, Wolf, Christian Bolliger und Yvan Rielle (Hg.): Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen 1848–2007. Bern: Haupt. S. 223–224.

[2] Graf, Manuel (2010): Sozialdemokratisches Vorpreschen findet keine Unterstützung. In: Linder, Wolf, Christian Bolliger und Yvan Rielle (Hg.): Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen 1848–2007. Bern: Haupt. S. 295–296.

[3] GfS Forschungsinstitut Bern, Analyse der eidgenössischen Abstimmungen vom 4. Dezember 1988

[4] Schweizer, Silas (2019): RPG-Revision beschert der Landschaftsinitiative einen indirekten Erfolg. Swissvotes – die Datenbank der eidgenössischen Volksabstimmungen

[5] https://www.swissinfo.ch/ger/zuerich---hochburg-der-wohnbaugenossenschaften/5799058

Privateigentum und das gesellschaftliche Verständnis von Gerechtigkeit sind unvereinbar

Michael Töngi
Michael Töngi

Nationalrat Grüne (LU)

1950 stimmte die Schweiz über die «Jungbauern-Initiative» ab. Sie hatte zum Ziel, die Aneignung von Landwirtschaftsland auf Erwerber zu beschränken, die ihn als Grundlage ihrer Existenz selbst bebauen. Beim Grundeigentum für Geschäfts- und Wohnzwecke sollte Spekulation mit gesetzlichen Massnahmen verhindert werden. Bereits vor der Abstimmung hatte der Bundesrat einige Punkte in das bäuerliche Bodenrecht aufgenommen. Als Gegenargument wurde vor allem mit der «Verstaatlichung» gedroht. Das zog anscheinend: Gerade einmal 27 Prozent der Stimmberechtigten stimmten der Initiative zu[1].

1968 scheiterte eine weitere Initiative der SP und Gewerkschaften zur Bekämpfung von Wohnungsnot, steigenden Grundstückspreisen und für ein Vorkaufsrecht wie auch Enteignungsrecht der öffentlichen Hand. Die Initiative kam auf eine Zustimmung von 28 Prozent[2].

1988 folgte eine andere Abstimmung, welche die Frage der Bodennutzung radikal stellte: Mit der Stadt-Land-Initiative sollte der Besitz von Boden nur noch für den Eigenbedarf möglich sein oder wenn preisgünstige Wohnungen erstellt werden – darunter wären gemäss Initiativkomitee auch Wohnanlagen finanziert aus der 2. Säule möglich gewesen – allerdings «ohne Firlefanz», wie es das Komitee im Abstimmungsbüchlein schrieb. Der Erwerb von Grundstücken zur Kapitalanlage wurde ausdrücklich ausgeschlossen. Auch diese Initiative erlitt Schiffbruch mit gerade mal 31 Prozent Ja-Stimmen. Die besten gegnerischen Argumente waren auch hier die «Verstaatlichung», und Nachteile für die Grundeigentümer. Allerdings war gemäss Nachuntersuchung die Eigentumsfrage sehr tabuisiert: «Fast jede(r) Dritte mochte im Gespräch uns nicht angeben, weshalb er / sie gegen die Vorlage gestimmt hatte»[3].

Diese Initiativen mit einer grundlegenden Fragestellung hatten also wenig Chancen. Wer auf einer grundsätzlichen Ebene am Privateigentum rüttelt, bekommt eine handfeste Antwort. Das Bild wird aber ganz anders, wenn die Flughöhe wechselt. Da gab es zum Beispiel die Landschaftsinitiative von 2008, die eine haushälterische Nutzung des Bodens wie auch ein hochwertige Siedlungsentwicklung nach innen verlangte. Die Initiative wurde 2012 zu Gunsten des indirekten Gegenvorschlags mit einer Revision des Raumplanungsgesetzes zurückgezogen. Die Teilrevision sah eine verbindliche Mehrwertabschöpfung vor, Auszonungen bei zu grossen Bauzonen und die Kantone mussten eine nachhaltige Siedlungsentwicklung fördern[4].

Und nochmals anders wird es, wenn wir auf die kommunale Ebene wechseln: Hier gibt es eine mehr als hundertjährige Tradition von Genossenschaftssiedlungen und kommunalem Wohnungsbau. Das Bedürfnis, den Boden nicht Privaten zu überlassen, sondern als Gesellschaft zu verwalten, hat in der konkreten Not aus der miserablen Wohnbedingungen der Arbeiterfamilien in der Industrialisierung Oberhand gewonnen. Bereits 2007 konnte Zürich 100 Jahre gemeinnützigen städtischen Wohnungsbau feiern, Genossenschaften entstanden bereits Ende des 19. Jahrhunderts. Die städtischen Siedlungen und Genossenschaftsbauten entstanden in Zürich wie in anderen Städten durch ein Engagement auf dem Wohnungsmarkt, mit Landreserven der Gemeinden und Zukäufe[5]. Bereits zu dieser Zeit wurde die Entwicklung von städtischen Gebieten auch mit raumplanerischen Vorgaben gelenkt. So etwa in der Stadt Luzern mit der Entstehung des Hirschmattquartiers: Die Struktur des Quartiers wurde in den 1890er Jahren in einem Wettbewerb erkoren und die Bürgergemeinde verkaufte Grundstücke unter Auflage einer raschen Bebauung.[6] Baurechtsvorschriften sind dagegen noch viel älter: Gerade mittelalterliche Städte, die wir gerne besuchen, verdanken ihre Einheitlichkeit oft Vorschriften.

Auf der kommunalen Ebene hat sich die Frage, wem der Boden gehört, was diese Person oder vor allem diese juristische Person damit machen darf und wer die sogenannte Bodenrendite nutzen kann, in den letzten 20 Jahren nochmals verschärft. Ausgangspunkt in der Deutschschweiz war die Stadt Zürich mit Initiativen und Beschlüssen des städtischen Parlaments. Neben einer verstärkten Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus wurden vermehrt raumplanerische Instrumente genutzt: Bei Umzonungen wurde ein Anteil gemeinnütziger Wohnungen eingefordert, dies wurde auch in Abstimmungen regelmässig so bejaht. Oder es wurde ein Anteil preisgünstiger Wohnungen festgelegt. Letztes Beispiel war die Abstimmung «Eine Europaallee genügt – jetzt SBB-Areal Neugasse kaufen» im September 2022: Sie verlangte, dass die Stadt das Areal kauft und darauf gemeinnützige Wohnungen erstellt[7]. Es folgten in anderen Städten viele weitere Initiativen und Forderungen, die in den meisten Fällen von der Stimmbevölkerung angenommen wurden. Viele Städte und Agglomerationsgemeinden hatten in den letzten Jahren Abstimmungen zu diesen Fragen[8]. Vorausgegangen war zum Beispiel die Stadt Zug, die bereits 2010 in ihrer Bauordnung eine Zone für preisgünstige Wohnungen schuf[9]. Der Kanton Zürich schaffte 2014 eine Rechtsgrundlage, damit die Gemeinden Zonen für preisgünstigen Wohnungsbau vorsehen können. Beispiele gibt es aber auch in ländlichen Gemeinden, wo oft das Dorfleben bedroht ist und dies auch am Mangel günstiger Wohnungen liegt. Die gesellschaftlichen Anliegen sind mehr als deutlich: Mehr preisgünstiger Wohnraum, mehr Wohnungen, die dem renditeorientierten Markt entzogen sind und ein Mehrwert für die Gemeinschaft etwa mit einem Erhalt historischer Gebäude oder einer guten Aussenraumgestaltung.

Noch konkreter werden diese Anliegen bei Einzelprojekten: Das Interesse an einer bestimmten Nutzung respektive am Nutzen für die Gemeinschaft kann ganz anders sein als die Einzelinteressen der Besitzer*innen. Oft sind es deren Renditeerwartungen, aber auch andere Planungsabsichten – und -horizonte, die den Interessen der Gemeinschaft entgegenstehen. So prallen unterschiedliche Interessen bei Verdichtungen, Nutzung leerstehender Parzellen oder eine gemeinsame Planung für eine Zentrumszone oder eine Koordination auch in den Quartieren aufeinander[10].

Sind nun Privateigentum und – vereinfacht gesagt – Gerechtigkeit unvereinbar? Vielleicht sind sie nicht unvereinbar, aber sie kollidieren miteinander respektive bestehen nebeneinander. Privateigentum ist in der Schweiz ein enorm starkes Argument und nicht umsonst im Gegensatz zu anderen Ländern unbeschränkt in der Verfassung gewährleistet. Gerechtigkeit im Sinne eines Ausgleichs und Deckung von Grundbedürfnissen ist ebenfalls ein wichtiges Prinzip und Handlungsanleitung. Wo welches Prinzip obsiegt, entscheidet sich an der konkreten Frage im demokratischen Prozess. Dass dort das Argument Privateigentum mit einem nicht unwesentlichen finanziellen Vorteil an den Start geht, wäre wiederum eine andere Geschichte.

[1] Graf, Manuel (2010): Rechts eingereicht, links getragen, klar verworfen. In: Linder, Wolf, Christian Bolliger und Yvan Rielle (Hg.): Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen 1848–2007. Bern: Haupt. S. 223–224.

[2] Graf, Manuel (2010): Sozialdemokratisches Vorpreschen findet keine Unterstützung. In: Linder, Wolf, Christian Bolliger und Yvan Rielle (Hg.): Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen 1848–2007. Bern: Haupt. S. 295–296.

[3] GfS Forschungsinstitut Bern, Analyse der eidgenössischen Abstimmungen vom 4. Dezember 1988

[4] Schweizer, Silas (2019): RPG-Revision beschert der Landschaftsinitiative einen indirekten Erfolg. Swissvotes – die Datenbank der eidgenössischen Volksabstimmungen

[5] https://www.swissinfo.ch/ger/zuerich---hochburg-der-wohnbaugenossenschaften/5799058

[6] Claude Widmer 2018: Die Entwicklung des Luzerner Hirschmatt- und Neustadtquartiers.

[7] https://al-zh.ch/blog/tag/neugasse-areal/

[8] WOHNEN 3 /22 S.22ff

[9] WOHNEN Mai / Juni 2020 S.38

[10] Jean David Gerber: Der Widerspruch zwischen planerischen Zielen und eigentumsrechtlicher Realität.

Der Stadtraum bestimmt soziale Verhältnisse

Diana Frei
Diana Frei

Strassenmagazin Surprise

Versteht sich eine Stadt als sozialer Raum oder wird sie vom Renditedenken bestimmt? Wem gehört der Wohnraum? Das sind Fragen, die auf sich auf unser Zusammenleben auswirken. Gedanken zur These: «Prekäre Verhältnisse werden in der Schweiz als Teil des Systems hingenommen.»

1. Prekäre Verhältnisse und öffentlicher Raum

Denke ich über prekäre Verhältnisse nach, speziell in Zusammenhang mit Raumfragen, kommt mir selbstverständlich Obdachlosigkeit in den Sinn. Sie wurde in der Schweiz statistisch lange gar nicht erhoben. 2022 wurde die SNF-Studie «Ausmass, Profil und Erklärungen der Obdachlosigkeit in acht der grössten Städte der Schweiz» publiziert. Gemäss Hochrechnungen für die Schweiz liegt die Zahl der Obdachlosen zurzeit zwischen 918 und 2740 Personen. Die Zahl ist im europäischen Vergleich eher gering. Aber jeder Mensch, der unfreiwillig auf der Strasse lebt, ist einer zu viel. Wie geht nun also die Gesellschaft damit um? Wird die unwürdige Lage dieser Menschen als Teil des Systems einfach hingenommen? Von Passant*innen oft schon. Im schlechten Sinn. Obdachlose werden ignoriert. Zudem tauchen seit einigen Jahren immer mehr bauliche Massnahmen auf, mittels derer unerwünschte Personen in Städten verdrängt werden. Es sind Designideen, die oft ästhetisch daherkommen, und fragt man die Verantwortlichen, nennt selbstverständlich niemand gezielte Verdrängung als Grund fürs hübsche Design. Tatsache ist, dass Bänke heute oft aus Einzelsitzplätzen bestehen, Armlehnen sind in der Mitte angebracht. Man kann sich nicht hinlegen. Sitzflächen an Tramstationen und Lüftungsschächte sind oft abgeschrägt, Fenstersimse in Sitzhöhe mit Spikes versehen, und in Pärken werden regelmässig Sprinkleranlagen eingesetzt. Selbst wenn Verdrängung nicht die Absicht ist, so ist sie dennoch das Resultat dieser Bauweisen. Das Phänomen wird international beobachtet, es wird «hostile design» genannt: feindliche Gestaltung. Man könnte also sagen: Prekäre Verhältnisse werden entweder hingenommen oder gezielt aus dem Blickfeld gedrängt. Es ist die Anwesenheit der Betroffenen, die nicht akzeptiert wird. Die Hintergründe ihrer Situation dagegen schon.

Der Kulturwissenschaftler Jürgen Krusche hält fest, dass Städte – auch mit Blick auf Städterankings – sich darum bemühen, «schön» zu sein, und er bemerkt dabei: «Doch birgt dies die Gefahr, dass nicht nur Objekte auf ihre ästhetische Qualität hin beurteilt werden, sondern auch Subjekte. Nicht nur der Plastikstuhl wird aus dem öffentlichen Leben verbannt, sondern zunehmend auch unwillkommene Menschen aus sozialen Randgruppen.»

2. Sennetts offene Stadt

Eine Stadt sollte aber für die Menschen da sein, die sie bewohnen. Erst Begegnungen und Teilhabe sowie Teilnahme am öffentlichen Leben und soziale Begegnungen machen Plätze und Strassen zum eigentlich öffentlichen, weil sozialen Raum. Der Soziologe und Stadtforscher Richard Sennett beschreibt eine solche soziale, «offene Stadt», die von Nachfolger*innen vielfältig weitergedacht wurde als gerechte, inklusive, egalitäre Stadt. Sie braucht Nischen, Möglichkeiten zur Gestaltung und Orte, die sich die Bevölkerung selbst aneignen kann, sie lebt von einer Beteiligung im Kleinen, von einer Selbstwirksamkeit im direkten Umfeld der Bewohner*innen. Doch Stadtboden ist teuer, und er unterliegt damit meist der Logik der Rendite, nicht der sozialen Begegnung.

Auch für Obdachlose sind Nischen wichtig. Ganz konkret. Schlafplätze, die kaum eingesehen werden. Sie bieten Schutz. Gehen diese Nischen verloren, ist das ein Signal, dass man hier keinen Platz hat, nicht erwünscht ist.

3. Hilfsangebote und Anlaufstellen

Es gibt in Städten Anlaufstellen und Hilfsangebote für Menschen in prekären Verhältnissen. Gassenküchen, Tageswohnheime, Notschlafstellen, Internetcafés, Essensausgaben und Kleiderabgaben. Sie sind zentral für Menschen, die auf der Gasse leben müssen.

Nun habe ich kürzlich mit dem deutschen Ex-Obdachlosen Dominik Bloh gesprochen, der einen Bestseller über seine Zeit in den Strassen Hamburgs geschrieben hat. Er hat unterdessen ein Hilfsprojekt aufgezogen: einen Duschbus für Obdachlose. «Waschen ist Würde», lautet der Slogan. Als ich Bloh – angetan von seinem Engagement für den Duschbus – danach fragte, welche weiteren Projekte den Menschen auf der Strasse helfen könnten, sagte er: «Gar keine mehr.» Er meinte damit: Hilfsangebote bekämpfen Symptome, statt dass sie die Verhältnisse grundlegend ändern. Sie zementieren also den Status Quo. Damit sind wir bei der These, mit der sich dieser Text auseinandersetzen soll. Denn Bloh benannte im Grunde genau das: «Prekäre Verhältnisse werden als Teil des Systems hingenommen.» Doch sollten nicht mehr die Symptome gelindert, sondern die Ursachen angegangen werden. Dies gilt auch für die Schweiz.

4. Wohnraum als gesellschaftspolitisches Instrument

Die EU möchte Massnahmen ergreifen, um die Obdachlosigkeit bis 2030 abzuschaffen. Der grundlegende Ansatz liegt in der Überzeugung, dass Wohnen ein Menschenrecht ist, und konkret findet sie ihre Umsetzung im Konzept «Housing First». In den letzten Jahren haben sich Housing-First-Ansätze weltweit zu etablieren begonnen. Statt dass Obdachlose Bedingungen erfüllen müssen, um eine Wohnung zu erhalten, erhalten sie bei Housing First als Erstes eine Wohnung – damit sie wieder Perspektiven entwickeln und nachhaltig für sich selbst sorgen können. Auch wirtschaftlich rechnet sich das Modell, indem die Gelder, die bisher in die Symptombekämpfung gesteckt werden, wegfallen.

Nur: Dafür braucht es Wohnungen. Und diese sind knapp in Schweizer Städten. Es ist relativ wenig eigener Wohnraum, den die Stadtverwaltungen von Basel, Bern und Zürich selbst besitzen oder der gemeinnützigen Stiftungen gehört. Wohnraum, den die Städte nicht dem freien Markt überlassen.

Dieser aber könnte ein Instrument sein, um gesellschaftliche Veränderungen anzustossen. Und Städte müssten imstande sein, hier lenkend einzugreifen. Fehlt aber Wohnraum, wird politisches Umdenken in Bezug auf Obdachlosigkeit schwierig. Dann wird der Satz «Prekäre Verhältnisse werden in der Schweiz als Teil des Systems hingenommen» seine Gültigkeit behalten.

Mit digitaler Mitwirkung zu einer gerechteren Beteiligung? Ja, aber!

Ramon Casutt
Ramon Casutt

Konova AG / E-Mitwirkung

Mitwirkung und Partizipation sind ein wichtiger Bestandteil der Raumplanung. Die Bevölkerung ist nicht mehr reine Konsumentinnen und Konsumenten der Verwaltung, sondern werden zunehmend auch als (Ko-)Produzenten und Produzentinnen in der Gemeinde- oder Stadtentwicklung verstanden (Klöti & Drilling, 2014). Ein aktiver Einbezug ist deshalb wichtig, um nachhaltige und breit abgestützte Lebens- und Arbeitsräume zu schaffen und zu gestalten. Sowohl gesetzlich vorgeschriebene Mitwirkungen (z.B. bei Richt- und Nutzungsplanungen) oder freiwillig durchgeführte Beteiligungen (z.B. bei einem räumlichen Entwicklungskonzept) leisten hier einen wertvollen Beitrag.

Wie ein solcher Einbezug der Bevölkerung durchgeführt wird, ist sowohl bei formellen als auch bei den informellen Vorhaben grundsätzlich nicht vorgeschrieben (ausgenommen sind hier öffentliche Auflagen mit Einsprachemöglichkeit). So führen die einen Verwaltungen eine Informationsveranstaltung mit anschliessender Fragerunde durch, andere organisieren komplexe Partizipationsprozesse mit unterschiedlichen Beteiligungsformaten.

Da die Raumplanung auf allen politischen Ebenen ein wichtiges Thema ist, sind Mitwirkungen und Beteiligungen oftmals auch mit einer hohen Anzahl an Rückmeldungen oder Einwänden verbunden. Dies zusammen mit dem Wunsch, mehr Einwohnerinnen und Einwohner zu erreichen, sind Gründe, warum sich immer mehr Verwaltungen in der Schweiz entscheiden, analoge Beteiligungsmethoden mit digitalen Instrumenten zu ergänzen oder zu ersetzen (Pleger, Mertes & Brüesch, 2022). Die Wahl der Methode bzw. des Instruments einer Beteiligung hat einen Einfluss auf die Gerechtigkeit des Mitwirkungs- oder Partizipationsprozesses.

Ausschluss von Personen

Sowohl bei der digitalen als auch bei einer analogen Durchführung von Mitwirkungen gibt es gewisse Personen(gruppen), die ausgeschlossen werden und sich somit nicht beteiligen können. Das ist kaum zu verhindern.

Bei einem analogen Workshop oder einer Informationsveranstaltung gibt es beispielsweise Personen, die aufgrund ihrer beruflichen oder ihrer privaten Situation nicht teilnehmen können oder wollen. Zudem zeigen Erfahrungen, dass es einen grossen Kommunikationsaufwand seitens der Verwaltung benötigt, um die breite Bevölkerung für eine analoge Veranstaltung zu gewinnen. So beklagen sich viele Gemeinden über ein mangelndes Interesse und eine geringe Teilnahme an ihren Veranstaltungen.

Eine digitale Mitwirkung (z.B. über eine Mitwirkungsplattform) bedarf immer gewissen digitalen Grundkompetenzen für eine erfolgreiche Beteiligung. So muss oftmals ein Login erstellt werden und die Teilnehmenden benötigen eine E-Mailadresse. Was banal klingt, ist gemäss einer Umfrage bei 188 Schweizer Gemeinden das meistgenannte Bedenken im Zusammenhang mit digitaler Mitwirkung (Pleger, Mertes & Brüesch, 2022). Auch bei der digitalen Mitwirkung ist ein Kommunikationsaufwand für die Aktivierung der breiten Bevölkerung unabdingbar. Personen, die nicht von einer Beteiligung erfahren, sei es analog oder digital, werden ausgegrenzt. Erfahrungsgemäss kann ein digitales Tool den Kommunikations- und Mitwirkungsprozess unterstützen (z.B. automatisiertes Einladen von Anspruchsgruppen), Kommunikationsmassnahmen aber nicht ersetzen.

Vorsicht, Gruppendynamik

Bei teilnehmenden Personen von analogen Partizipationsveranstaltungen sind oftmals komplexe gruppendynamische Systeme zu beobachten, wo sich gewisse Personen unter Umständen nicht trauen, ihre Meinung zu äussern und dadurch das Gesamtbild zugunsten von Vielrednerinnen und Vielrednern verzerren. Erfahrene Moderatorinnen und Moderatoren verstehen die Gruppendynamik und können diese gezielt steuern, um eine gerechtere Beteiligung zu ermöglichen. Bei digitalen Beteiligungen über eine Partizipationsplattform kommen solche Formen der Gruppendynamik weniger vor, da sich Personen orts- und zeitunabhängig beteiligen können und dadurch in der Regel nicht direkt miteinander interagieren (ausgenommen sind Workshops und Veranstaltungen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt digital abgehalten werden).

Information ist Macht

Der Einbezug von Anspruchsgruppen kann unterschiedlich realisiert werden und reicht von reiner Information bis hin zu aktiver Mitbestimmung und Entscheidung. Unabhängig davon, welche Stufe der Partizipation angewendet wird, bildet Information immer die Grundlage für jedes Vorhaben (Hartung, Wihofszky, & Wright, 2020).

Eine gerechte Beteiligung kann daher nur erfolgen, wenn auch ein gerechter Zugang zu Information besteht. Dies bezieht sich sowohl auf den Informationskanal als auch auf die Aufbereitung der Information. Gerade im Bereich der Raumplanung sind die zur Verfügung gestellten Unterlagen für viele Personen aus der Bevölkerung nur schwierig zu verstehen.

Es ist deshalb wichtig, dass die Projektkommunikation zielgruppengerecht geführt wird und die Informationen so aufbereitet werden, dass sie für möglichst alle verständlich sind. Hier bieten digitale Informationskanäle den Vorteil, dass unterschiedliche Sprachen sowie unterschiedliche Informationstiefen aufbereitet und orts- und zeitunabhängig angeboten werden können.

Des Weiteren ist es essenziell, dass die Projektkommunikation nicht nur einmalig, sondern über den gesamten Prozess hinweg geführt wird. So kann auch jemand, der sich erst bei einer öffentlichen Mitwirkung beteiligt, nachvollziehen, warum ein bestimmtes Thema im Rahmen einer vorherigen Partizipationsschlaufe verworfen wurde.

Kombination analoger und digitaler Methoden

Statt sich auf eine Methode oder einen Kanal zu beschränken, hat es sich bewährt, verschiedene Methoden und Kanäle zu kombinieren. So lassen sich zum Beispiel die Ergebnisse aus einem analogen Workshop auf einer digitalen Plattform darstellen, wo die Ergebnisse wiederum eingesehen und weiterverarbeitet werden können. Durch eine Kombination der Methoden kann sichergestellt werden, dass möglichst wenige Personen(gruppen) ausgegrenzt werden und somit eine möglichst gerechte Beteiligung stattfindet.

Abschliessend lässt sich festhalten, dass basierend auf Praxiserfahrungen die digitale Mitwirkung grundsätzlich zu einer gerechteren Beteiligung führen kann. Vorausgesetzt, dass sie in Kombination mit analogen Methoden verwendet und die Projektkommunikation zielgruppengerecht geführt wird.

Klöti, T. & Drilling, M. (2014): Warum eigentlich Partizipation? Sozialwissenschaftliche Analyse aktueller Partizipationsverständ- nisse in der Planung, Gestaltung und Nutzung öffentlicher Räume. Verfügbar unter: https://zora-cep.ch/cmsfiles/ZORA_Forschungsbericht_FHNW-ISS_Nov2014_def_1.pdf

Pleger, L., Mertes, A. & Brüesch, C. (2022): Ergebnisbericht: Befragung von Städten und Ge- meinden in der Deutschschweiz zur digitalen Mitwirkung. Verfügbar unter: https://www.zhaw.ch/storage/sml/institute-zentren/ivm/Performance_Management/Allgemein/Ergebnisbericht_Befragung_von_Städten_und_Gemeinden_zur_digitalen_Mitwirkung.pdf

Hartung, S., Wihofszky, P. & Wright, M. (2020): Partizipative Forschung: Ein Forschungsansatz für Gesundheit und seine Methoden. Wiesbaden: Springer VS.

Privateigentum und das gesellschaftliche Verständnis von Gerechtigkeit sind unvereinbar.

Wenzel Haller
Wenzel Haller

Zentrum für Anarchie Aarau

eine Ansammlung von Wörtern in einer bestimmten Anordnung, der und dessen Inhalt man als aufgeklärt denkender Mensch ohne weiteres fröhlich zustimmen kann

aber halt,

ich als Privateigentümer, der eigentlich nicht viel für Privateigentum übrig hat, vor allem dann nicht, wenn Idiot*innen Eigentümer*innen sind, was ja meist zutrifft .... und Gerechtigkeit sowieso....

dann kann man die Begriffe in die Waschmaschine geben, die da heisst: Geschichtsfälschung, Biegung der Erzählung (modern: des Narrativs), Realitätsverklärung, Anpassung an die gegebene gesellschaftliche Realität, Opportunismus, Selbsttäuschung etc. und findet heraus: Privateigentum ist Gerechtigkeit - ich würde meinen, viele politische Parteien, Amtsstellen und Privatpersonen in der Schweiz und anderswo sehen das genauso.

Aber was ist, wenn es denn doch nicht so ist?

Vielleicht braucht es zuerst eine Auseinandersetzung mit den Wörter und deren Inhalte?

Privateigentum:

individuelles Eigentum, Privateigentum, Eigentum, Besitz - juristische Begriffe, aber auch emotionale, für das besitzende Individuum sind diese emotionalen Aspekte wohl wichtiger? Manchmal, von Fall zu Fall?

dann

mir persönlich geht es nicht darum, möglichst viel Privateigentum bei mir anzusammeln, es geht darum, dass es mir gehört und nicht jemand Anderem, der/die dann Dummheiten (z.B. Gewinnmaximierung) damit macht. Wenn ich früher angenehmere Vermieter*innen gehabt hätte, die nicht ständig die Häuser abgerissen hätten, in denen ich wohnte, wäre ich heute wohl nicht Privateigentümer.

gesellschaftliches Eigentum / gemeinsames Eigentum ( Familien, Vereine, einfache Gesellschaften, Aktiengesellschaften, Genossenschaften)

auch dies ist eigentlich Privateigentum, nicht von einer Person aber von mehreren Personen

Leider muss man feststellen, dass auch diese Eigentümerschaften im grossen Ganzen sich mehr oder weniger marktkonform verhalten, was sich meistens nicht gut auswirkt. (oder ist der Markt gerecht, der Ausdruck von Gerechtigkeit?)

öffentliches Eigentum: demokratisch (je nach dem?) kontrollierter Besitz, ein Mythos um Anderes zu verschleiern?

da ist möglicherweise die Korruption gleich um die Ecke, partikuläre Interessen treten in den Vordergrund und durch die Abstraktion besteht auch die Gefahr, dass die Besitzenden den Überblick verlieren, sich nicht verantwortlich fühlen und der Besitz dadurch leidet.

Ja, Besitz hat einen Aspekt der Verantwortlichkeit.

gesellschaftliches Verständnis:

Damit ist wohl das gemeinsame Verständnis einer Gesellschaft eine bestimmte Problematik betreffend gemeint. Wie kommt so ein gemeinsames Verständnis zustande, wenn überhaupt?

Reicht eine demokratische Entscheidung? Ist es überhaupt eine demokratische Entscheidung? Ist „common sense“ oder „gesunder Menschenverstand“ so etwas?

Könnten die Mottos: „Eigentum ist Diebstahl“ (Pierre Joseph Proudhon) und „Expropriation der Expropriateure / Enteignung der Enteigner“ (Karl Marx?) common sense sein? Könnte man darüber abstimmen um diese einzuführen?

Gerechtigkeit:

Ist ein so verbrauchter Begriff, dass es schwer ist, damit umzugehen, damit etwas anzufangen. Er wird meistens und vor allem populistisch eingesetzt, hat möglicherweise seine inhaltliche Bedeutung, sein Gewicht im Diskurs verloren

man kann ihn wohl in der abstrakten Definition verwenden - aber nützt das etwas?

gleich - ungleich: ist die Definition von Gerechtigkeit darin vorhanden? alle sind gleich, einige gleicher?

ist gesellschaftliches Verständnis von Gerechtigkeit etwas Anderes als Gerechtigkeit?

gibt es ein anderes Verständnis von Gerechtigkeit als das der menschlichen Gesellschaft? da wäre möglicherweise das individuelle Verständnis von Gerechtigkeit gemeint - oder? (Wikipedia: Gerechtigkeit ist nach dieser klassischen Auffassung ein Maßstab für ein individuelles menschliches Verhalten.)

das gesellschaftliches Verständnis von Gerechtigkeit beinhaltet wohl, dass alle Menschen gleich behandelt werden. Wenn aber jetzt jemand etwas besitzt, können dasselbe alle anderen Personen nicht besitzen (oder doch?), wodurch eine Ungerechtigkeit, Ungleichheit entsteht. In dieser Formalität wird die Unvereinbarkeit deutlich sichtbar - oder? Eine Unvereinbarkeit, Widersprüchlichkeit, mit der wir leben müssen?

als Befürworter des Zufalls als Entscheidungsvorgang - das Los ist immer gerecht, immer - (siehe website www.losen-statt-waehlen.ch) würde ich gerne auch Eigentum und Gerechtigkeit mit dem Los verbinden.

Das heisst nicht, dass die ausgelosten Entscheidungen gut sein müssen, aber gerecht sind sie auf jeden Fall.

Wie das bei Besitz / Grund / Boden zum Tragen kommen könnte, müsste geklärt werden, ich sähe aber schon Möglichkeiten.

Holzschnitz mit drei Männer in einem Bett liegend

Der Schlaf der drei Gerechten, Holzschnitt von Ernst Würtenberger

Gemälde einer nakten Frau mit Schwert in der einen und Waage in der anderen Hand.

Gerechtigkeit als nackte Frau mit Schwert und Waage, Lucas Cranach

Wir haben uns an den Gedanken gewöhnt, dass Eigentum unangreifbar ist

Daniel Binswanger
Daniel Binswanger

Republik

Privatbesitz gilt als heilig – aber jetzt werden Oligarchenjachten beschlagnahmt. Ist das juristisch okay? Und was hat Kapitalismus mit Recht zu tun? Ein Gespräch mit der Rechtsprofessorin Katharina Pistor.

Dass es ein Vorteil ist, wenn man juristisch gut beraten wird, ist eine Erfahrung, die wir alle immer wieder machen. Unsere Lebensverhältnisse werden nicht nur von der Politik, sondern auch vom Recht bestimmt. Es entscheidet sehr weitgehend über Macht- und über Vermögensverteilung, über Gewinnchancen und Verlust. Die deutsche Juristin Katharina Pistor ist Rechtsprofessorin an der Columbia Law School in New York. Sie hat den «Code des Kapitals» geschrieben, ein sehr gelehrtes Werk mit einer brisanten Botschaft: Die Rechtsordnung dient nicht bloss dem Schutze des Wirtschaftssystems. Sie bildet den eigentlichen Kern des heutigen Kapitalismus. Die Republik hat Katharina Pistor in Leukerbad, wo sie zu Gast war am Literaturfestival, zum Gespräch getroffen.

In «Der Code des Kapitals» vertreten Sie eine überraschende These: Kapital wird geschaffen durch Rechtskonstrukte, durch bestimmte Codierungen des Rechts. In der ökonomischen Theorie heisst es, Kapital besteht aus Gütern, etwa aus Produktionsmitteln, Immobilien. Sie behaupten: Kapital besteht nicht aus den konkreten Dingen, die man besitzen kann, sondern aus bestimmten Rechtsmodulen.

Die ökonomische Theorie lehrt, dass es zwei Produktionsfaktoren gibt, Kapital und Arbeit. Ich versuche nun, den Faktor Kapital genauer zu bestimmen und zu fragen, auf welche Weise das Kapital konstituiert wird. Nur wenn ich die Produktionsmittel kontrolliere, also zum Beispiel bestimmen kann, welche Dinge in den Produktionsprozess hineingehen oder unter welchen Bedingungen ich mit Arbeitnehmern einen Vertrag abschliesse, bilden diese Produktionsmittel Kapital. Dazu muss ich aber eine bestimmte Rechtsposition haben. Ich muss über diese Mittel verfügen, in der Regel als Eigentum. Aber Eigentum ist eine Rechtsfigur, nicht etwas Naturgegebenes, das von selbst da ist.

Ein Beispiel?

Ich kann zum Beispiel ein Unternehmen gründen: Dieses Unternehmen wird bevorzugt eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung sein. Beschränkte Haftung ist jedoch eine spezifische Rechtsform. Wenn es darum geht, Kapital in eine wirtschaftliche Tätigkeit zu investieren, über dieses Kapital die Kontrolle zu haben, aber gleichzeitig meine persönlichen Risiken nicht zu gross werden zu lassen, dann bietet sich eine solche Gesellschaft als Rechtsform an. Die gewünschte Kontrolle wird rechtlich hergestellt. Wir wenden ja keine physische Gewalt an – so sollte es jedenfalls sein –, sondern wir stützen uns auf rechtliche Konventionen, die durch die Staatsgewalt gestützt und nötigenfalls auch mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden können. Zum Schutz des Eigentums und seiner Verwertung als Kapital mussten komplexe Rechtsformen – ich nenne sie Module – geschaffen werden, die wir immer wieder neu an die wirtschaftlichen Entwicklungen angepasst haben.

Sie thematisieren in Ihrem Buch die immensen und immer grösser werdenden Vermögensunterschiede in den heutigen Demokratien. Und Sie geben für diese Entwicklung einen erstaunlich schlichten Grund an: Die Reichen können sich die besseren Anwälte leisten.

Was damit gemeint wird, ist nicht ganz so simpel, aber im Grundsatz trifft es zu: Meine Möglichkeiten zur Kapital- und Vermögensbildung hängen von meiner Rechtsposition ab. Wenn ich diese möglichst stark machen kann, ist das ein entscheidender Vorteil. Sehr viele privatrechtliche Fragen werden heute in grossen Wirtschaftskanzleien ausgehandelt und kommen gar nie vor Gericht. Viele Fragen der Kapitalzuteilung werden durch die Rechtspraxis entschieden und tauchen auf dem Radar der Öffentlichkeit oder der politischen Entscheidungsträger gar nicht auf. Wer die besseren Anwälte hat, kann seine Interessen deshalb auch besser geltend machen – und alle anderen haben das Nachsehen.

Sie stellen die These auf, dass Eigentum nur dann zu Kapital im vollen Sinn werden kann, wenn das Recht, das dieses Kapital in eine bestimmte juristische Form giesst, bestimmte Eigenschaften hat. Welche?

Es geht immer um den Schutz von Vermögenswerten – Vermögenswerte, die ich in der Vergangenheit angesammelt habe, über die ich in der Gegenwart verfügen will und die mir in der Zukunft die Möglichkeit eröffnen sollen, noch grössere Vermögenswerte zu schaffen. Es geht immer um die Bewahrung und Vermehrung von Werten. Um dies zu ermöglichen, muss das Kapital bestimmte rechtliche Attribute besitzen. Erst durch diese werden Güter im eigentlichen Sinn zu Kapital. An erster Stelle zu nennen ist die Priorität. Recht stellt eine Rangordnung zwischen Besitzansprüchen auf, Rangordnungen zwischen Zugriffsrechten.

Wenn ein Gut mein Eigentum ist, beispielsweise ein Grundstück, dann habe ich doch ganz klar das prioritäre Verfügungsrecht? Was gibt es da gross zu regeln?

Sicherlich, Eigentum ist Verfügungsrecht. Aber bleiben wir beim Beispiel des Grundstücks, das Sie besitzen: Damit dieses Grundstück Kapital darstellt, müssen Sie aus seinem Wert Gewinn ziehen. Das kann geschehen, indem Sie es bewirtschaften, verpachten – oder mit einer Hypothek belasten und den besicherten Kredit investieren. Spätestens jetzt stellen sich potenziell sehr komplexe Prioritätsfragen. Wer hat wann unter welchen Bedingungen den Zugriff auf Ihr Grundstück, wenn Sie den Kredit nicht mehr bedienen können?

Prioritätsrechte werden wichtig, sollte ich Konkurs machen?

Der Härtetest ist immer der Konkurs. Wenn ein Schuldner zu wenig liquide Mittel hat, um alle seine Kredite zu bedienen, dann kommen seine Gläubiger und wollen ihr Geld eintreiben. Wenn nun einer sagt, ich habe eine Hypothek auf dem Grundstück, müssen alle anderen zur Seite stehen, der Bodenbesitz wird versteigert, und der Hypothekengläubiger bekommt als Erster den Zuschlag von dem Geld, das durch den Kauf erzielt worden ist. Alle anderen, die keine Kreditsicherung haben, müssen sich mit den Krümeln abfinden, die übrig bleiben. Das bedeutet: Ein Kreditvertrag ist schön und gut. Wenn ich aber einen besicherten Vertrag mit einem Schuldner abschliesse, habe ich viel bessere Rechte. Die Priorität bestimmt die Sicherheit meiner Ansprüche. Wenn es um die Wurst geht, ist das entscheidend.

Und das ist dann auch eine entscheidende Stellschraube für Vermögensbildung?

Natürlich. Wenn ich weiss, ich habe einen besicherten Kredit vergeben und alle anderen müssen zur Seite treten, während ich mir mein Geld aus der Konkursmasse rausholen kann, habe ich eine gewisse Garantie, dass mein Anspruch auch erfüllt wird. Priorität ist ein entscheidendes Attribut für Kapitalbildung.

Was sind die anderen Rechtsattribute?

Wichtig ist auch, was ich Dauerhaftigkeit nenne. Dauerhaftigkeit bedeutet: Ich kann verschiedene Vermögenswerte voneinander rechtlich abtrennen und damit vor dem Zugriff von Gläubigern besser schützen. Nehmen Sie zum Beispiel eine GmbH. Wenn ich die Eigentümerin einer GmbH bin – und inzwischen kann ich eine GmbH als One-Woman-Betrieb gründen –, sind die Vermögenswerte, die ich in die GmbH tue, meinen persönlichen Gläubigern entzogen. Sie können zwar meinen Anteil an der GmbH nachher benutzen, um die Gesellschaft zu liquidieren und doch noch Zugriff auf das Geschäftsvermögen zu bekommen, aber das ist sehr hürdenreich. Umgekehrt können auch die Gläubiger der GmbH nicht auf mein Privatvermögen zurückgreifen, weil ich eben nur beschränkte Haftung habe.

Aber beschränkte Haftung ist doch auch wichtig, weil erst mit dieser Rechtsform die Bereitschaft entsteht, grosse Risiken einzugehen. Nicht umsonst wird doch gesagt: Die Erfindung der Gesellschaft mit beschränkter Haftung war entscheidend für die Entstehung des modernen Kapitalismus.

Es führt aber auch dazu, dass einer GmbH oder einer Aktiengesellschaft das Gesellschaftsvermögen selber gehört. Wir behandeln diese Firmen ja wie juristische Personen. Sie können ihre eigenen Verträge abschliessen, sie können im eigenen Namen klagen und verklagt werden. Es bilden sich grosse Vermögensmassen ganz unabhängig vom Vermögen der Aktionäre. Die Aktionäre haben davon insofern etwas, als sie Dividenden bekommen oder ihre Anteile mit Gewinn an andere weiterverkaufen. Damit kodifiziert man eine Trennung von Vermögenswerten – auch wenn sie de facto in der Hand ein und derselben natürlichen Person sind.

Und auf diese Weise kann auch der Fortbestand von Vermögen gesichert werden, weil Gläubiger im Konkursfall immer nur auf einen Teil der Vermögenswerte zugreifen können.

Das ist inzwischen in der Welt der strukturierten Finanzierungen, der structured finance, zu einer komplexen Wissenschaft geworden. Selbst normale Konzerne bilden immer kleinere Töpfe – das heisst, sie gründen zum Beispiel eine Vielzahl formell unabhängiger Tochterfirmen –, die ihr eigenes Kapital aufnehmen und die voneinander rechtlich abgeschirmt sind.

Auch die Rechtsform des Trusts wird häufig benutzt, um die Dauerhaftigkeit von Kapital zu verbessern.

Der Common Law Trust spielt eine überragende Rolle, obwohl er in Zivilrechtssystemen eigentlich gar nicht existiert. In der Schweiz zum Beispiel ist er lediglich durch die Hintertür eingeführt worden. Es gibt nämlich ein internationales Abkommen, das den Trust kodifiziert, und es gibt ein paar wenige Länder, die dieses Abkommen ratifiziert haben. Dazu gehört auch die Schweiz.

Das heisst, wir wenden in der Schweiz die Trust-Gesetzgebung an?

Ja, aufgrund des internationalen Abkommens. Der Trust ist die genialste Erfindung für Kapitalbildung. Man kann seine Einführung in das englische Recht zurückverfolgen bis ins elfte, zwölfte Jahrhundert. Trusts erlauben es, Vermögenspositionen zu verschieben und beliebigen Personen zuzuordnen, ohne dabei den formalen Regeln des Eigentumsrechts zu folgen. Das Eigentumsrecht verlangt eine Form der Publizität, eine Aussenwirkung, damit es alle wissen, wenn eine Eigentumsverschiebung stattfindet. Wenn ich mein Eigentum an einem Grundstück übertragen will, muss ich das ins Grundbuch eintragen, das ist bis heute so. Wenn ich einen Vermögenswert verpfänden will, muss ich das Pfand physisch übergeben – jedenfalls war das ursprünglich so. Die Idee ist immer, dass sichtbar wird, wer Zugriff hat auf den Vermögenswert. Der Trust jedoch macht das Gegenteil: Er erlaubt, Vermögenswerte zu verschieben, ohne dass es sichtbar wird. Die Übertragung wird lediglich in einem privaten Vertrag festgehalten, ist aber trotzdem gerichtlich einklagbar.

Was ist der Vorteil? Warum hat man dieses Rechtsmodul überhaupt erfunden?

Ein historischer Grund war das englische Erbrecht, das die Primogenitur hochhielt. Das bedeutete, dass immer der erste Sohn den gesamten Familienbesitz bekam. Wenn ein zweitgeborener Sohn oder eine Tochter auch einen Anteil an den Ländereien bekommen sollte, konnte das nicht im Testament festgelegt werden, das war rechtlich nicht möglich. Deshalb schuf man Trusts. Ein Erblasser konnte einen Teil seines Landes in einen Trust einbringen und, sagen wir mal, einen jüngeren Cousin zum Trustee machen, der die Ländereien dann zugunsten anderer Familienmitglieder – weiterer Söhne oder Töchter – verwaltete. Dieses Land war dann nicht mehr Teil der Erbmasse. Es wurde in den Trust überführt.

Und nach diesem Prinzip funktionieren Trusts auch heute noch?

Heute sind Trusts insbesondere beliebt als Instrumente zur Steuervermeidung, weil man eben Vermögenswerte in den Schoss des Trusts überführen kann und deshalb nicht mehr versteuern muss beziehungsweise nur zu geringeren Steuersätzen. Aber auch für die Finanzindustrie sind Trusts wichtig. Weite Teile des Schattenbank-Systems, also etwa die special purpose vehicles, die Hypotheken verbriefen oder Derivate herausgeben, beruhen auf der Rechtsform des Trusts. Das hat den Vorteil, dass die Finanzhäuser, die solche Trusts auflegen, wenn überhaupt nur indirekt haftbar sind für die derart abgetrennten Geschäftstätigkeiten und dass diese Vehikel deshalb ausserhalb der Bilanzen geführt werden können. Es hat aber auch Vorteile für die Investoren, die solche Wertpapiere kaufen.

Weshalb?

Wenn Sie zum Beispiel verbriefte Hypotheken aufkaufen, die von einem special purpose vehicle aufgelegt wurden, dann müssen Sie sich um die Bonität des Mutterhauses keine Gedanken machen. Selbst wenn die Bank, die diesen Trust geschaffen hat, bankrottgeht, betrifft Sie das nicht, weil das special purpose vehicle nicht zum Bankvermögen gehört und nicht in der Konkursmasse wäre. Investoren müssen dann nur die Titel, in die sie investieren, genau analysieren und nicht die ganze Bank. Sie können ihre Risiken besser einschätzen, mindestens in der Theorie. Das jedenfalls ist die Grundidee, die häufig allerdings doch nicht stimmt, etwa weil die Bank Kredite garantiert oder Liquiditätshilfen leistet.

In Ihrem Buch nennen Sie noch einen anderen Grund für die Erfindung des Trusts: Die englischen Adligen überschrieben Grundbesitz in Trusts, belasteten ihn aber gleichzeitig mit Hypotheken. Damit war ihr Boden dann vor dem etwaigen Zugriff der Gläubiger geschützt.

In der Tat. Man muss aber auch die Vorgeschichte sehen: Bodenbesitz wurde in England erst spät überhaupt privatisiert, durch die sogenannte Einhegungsbewegung im 16. und 17. Jahrhundert. Davor gab es im englischen Feudalsystem gar kein Eigentum an Grund und Boden im heutigen Sinn. Adlige, die über Ländereien verfügten, hatten keinen Eigentumstitel an dem Land, sondern nur bestimmte Nutzungsrechte an dem Boden, was miteinschloss, dass sie dieses Land mit den commoners – den Bauern und den Pächtern – teilen mussten. Die Landlords hatten auch nicht das Recht, ihren Boden zu verkaufen. Die enclosures oder zu Deutsch eben die Einhegungsbewegung führte dann aber dazu, dass die Landlords den Boden einzuhegen begannen und alle anderen Benutzer aussperrten. Das führte zu heftigen Konflikten, die sowohl mit physischer Gewalt als auch vor den Gerichten ausgetragen wurden und zunächst grosse Rechtsunsicherheit schufen. Letztlich jedoch, im Laufe einer sich über etwa hundert Jahre hinziehenden Konfrontation, setzten sich die Landlords durch: Der Boden wurde zu ihrem Privateigentum, das gesetzlich auch entsprechend abgesichert wurde.

Man sollte eigentlich doch meinen, dass der Boden, den ich bestelle, eine urwüchsige Form des Eigentums ist. Und Sie sagen: Dass überhaupt private Parzellen abgegrenzt werden konnten, war das Ergebnis eines langen juristischen Kampfes.

Erst im 17. Jahrhundert war das private Eigentumsrecht an Boden definitiv etabliert und juristisch festgezurrt. Erst da wurde Grundbesitz im eigentlichen Sinn zu Kapital. Inzwischen war allerdings die wirtschaftliche Entwicklung vorangeschritten. Die Landlords sagten nun: Wir wollen nicht nur Landwirtschaft betreiben, sondern in Industrie und Handel einsteigen. Dazu brauchten sie liquides Kapital, was bedeutete: Sie belasteten ihren Grundbesitz mit Hypotheken. In dieser Phase wurde es deshalb nötig, die Bodenbesitzer vor etwaigem Bodenverlust zu beschützen, für den Fall, dass sie ihre Schulden nicht bedienen konnten. Jetzt ging es nicht mehr darum, Grundbesitz in Kapital zu verwandeln. Es ging darum, das bestehende Kapital vor fremdem Zugriff zu schützen.

Wie ging man vor?

Es wurden häufig spezielle Familientrusts geschaffen – das nannte sich im Englischen ein entail, ein Konstrukt, das den Gläubigern das Zugriffsrecht auf Grundbesitz höchstens in Höhe von 50 Prozent des Bodens ermöglichte. Das führte dazu, dass der Grundbesitz in England weitgehend in den Händen von etwa 8000 adligen Familien konzentriert blieb, selbst als diese das gar nicht mehr finanzieren konnten und am Tropf der Gläubiger hingen. Das wurde natürlich immer ineffizienter, und in den 1870er-Jahren, in der grossen Wirtschaftskrise, brach das System zusammen. Zu Beginn der 1880er-Jahre wurden dann zwei wichtige Gesetze erlassen: der «Conveyancing and Law of Property Act» von 1881 und der «Settled Land Act» von 1882. Darin war festgeschrieben, dass auch die Nutzniesser der Familientrusts wie normale Eigentümer behandelt werden sollten und deshalb für ihre Schulden im vollen Umfang aufkommen mussten. Das hat dazu geführt, dass 20 Prozent des englischen Grundbesitzes innerhalb von nur zehn Jahren an neue Eigentümerinnen gingen. Die neue Rechtsordnung führte zur spektakulärsten Neuzuordnung von Eigentum in England, seit im 16. Jahrhundert die katholische Kirche aus dem Land verdrängt wurde.

Und wir schaffen heute mit der Aufspaltung von Grosskonzernen in Tochtergesellschaften oder mit den Trusts als Vehikel der globalen Finanzindustrie wieder etwas ganz Ähnliches: juristische Module, um Vermögensbestände zu schützen?

Multinationale Konzerne, Equity-Fonds, Unternehmen, Investoren sind immer auf der Suche nach rechtlichen Strukturen, die ihre Verlustrisiken verkleinern. Deshalb muss das Kapital in verschiedene Töpfe getan werden, und diese Töpfe können Trusts sein, special purpose vehicles, wie das heute genannt wird, oder es können auch Aktiengesellschaften, GmbHs oder Stiftungen sein, je nachdem, was man gerade macht. Wichtig ist, dass es verschiedene Töpfe sind. Solche Strukturen kann man heutzutage relativ frei kreieren – was nicht immer so war. Früher brauchte man mindestens fünf Aktionäre, um eine Aktiengesellschaft zu gründen oder selbst für eine GmbH. Das New Yorker Recht von 1811 zum Beispiel begrenzte die Gültigkeit der Gründungsurkunde eines neuen Unternehmens auf 20 Jahre. Dann musste neu überprüft werden, ob die Firma ihre Geschäfte weiterführen kann. Auch durfte ein Unternehmen nicht mehr als eine Höchstsumme an Kapital haben – während andere Rechtsordnungen Mindestkapitaleinlagen festlegten. Das alles gibt es heute fast nicht mehr. Je nach Rechtsordnung bestehen noch gewisse Rahmenbedingungen für Firmengründungen, aber mit der Hilfe eines Brokers kann ich mir über Nacht in der Jurisdiktion meiner Wahl ein paar GmbHs gründen lassen, über die ich als Hauptaktionärin dann auch frei verfügen und wo ich Vermögenswerte hineintun oder herausnehmen kann. Das sogenannte jurisdiction shopping, also die praktisch freie Wahl des Sitzes für meine Unternehmen, schafft grosse Gestaltungsmöglichkeiten.

Besteht nicht der Verdacht, dass dasselbe geschieht wie mit dem Grundbesitz im England? Dass das Gesetz weitgehend dem Zweck dient, die heutigen «Landlords» zu schützen?

Man sieht in der Geschichte immer wieder denselben Prozess: Es geht stets von Neuem um «Einhegung», um die Absicherung von Vermögenswerten und Besitzansprüchen. Die erste Einhegung galt dem Land, das durch Zäune und Hecken in Parzellen unterteilt wurde. Die zweite Einhegung galt dem Wissen, das durch die Entwicklung und weltweite Durchsetzung des Patentrechts oder Copyrights vollzogen wurde. Die dritte Einhegung, die heute geschieht, betrifft unsere Daten, über welche die grossen Tech-Konzerne inzwischen sehr weitgehende Verfügungsrechte haben.

Sind solche Schutzmechanismen ökonomisch effizient?

Das ist die Frage. Es wird natürlich als ökonomisch effizient verkauft, weil so getan wird, als ginge es nur darum, begrenzte Güter – also zum Beispiel Investitionsmittel – möglichst optimal zuzuordnen. Diese Funktion zu erfüllen, soll ja das Wesen sein von Marktwirtschaft. Dem ist jedoch entgegenzuhalten: Die Güter werden nicht einfach zugeordnet, sondern es werden mit diesen Rechtsinstitutionen bestimmte Güter beziehungsweise das Kapital überhaupt erst geschaffen. Deswegen spreche ich von minting capital, von Kapital, das durch Recht überhaupt erst «gemünzt» und geschaffen wird. Ich kann diese Rechtsinstitutionen zum einen benutzen, um Strategien zur Risikovermeidung umzusetzen, wozu auch das Risiko gehört, dass man besteuert wird oder dass Gläubiger an meine Assets rankommen. Ich kann zum anderen aber durch rechtliche Codierung auch neue Vermögenswerte schaffen. Wenn ich eine Aktiengesellschaft gründe, kann ich Aktien emittieren. Diese Aktien kann ich dann nehmen und damit ein anderes Unternehmen kaufen, als ob ich mein eigenes Geld produziert hätte. Natürlich klappt das nur, solange es einen Markt gibt, meine Aktientitel eine Käuferin finden. Aber dennoch: Ich kann Rechtsinstitutionen benutzen, nicht nur um Vermögenswerte, die ich durch wirkliche Produktion geschaffen habe, zu schützen, sondern um neues Kapital zu schöpfen.

Und es sind im Grunde dieselben Instrumente, die schon die englischen Landlords benutzten?

Wenn man sich die Entwicklung des Kapitalismus ansieht, dann hat alles mit Grundbesitz angefangen. Heutzutage geht es vor allem um Unternehmen, Kredite und immaterielle Güter, also Finanzwerte und intellectual property rights. Immaterielle Güter existieren ausserhalb des Rechts allerdings gar nicht. Gold können Sie vielleicht im Tresor haben, aber ein Zahlungsanspruch, der rechtlich durchsetzbar und vielleicht besichert ist mit einem anderen Zahlungsanspruch oder mit einem Aktienpaket, ist ein blosses Konstrukt des Rechts – und dieses Konstrukt wird benutzt als Kapital, das heisst, um noch mehr Güter zu schaffen.

Das klingt ein bisschen, als hätte diese Form des Kapitals eine fiktive Qualität.

Fiktiv ist es nicht, sondern sehr real. Aber was nur durch Rechtstitel gesichert ist, ist fragil. Es beruht darauf, dass wir alle daran glauben, dass es sich auch wirklich um Werte handelt. Das heutige System kann damit zwar enorme Werte schaffen, aber in Krisensituationen – einer Schuldenkrise, einer Börsenkrise – können sich diese immateriellen Werte auch blitzschnell in Luft auflösen. Deshalb gibt es neben der Priorität und der Dauerhaftigkeit ein drittes Rechtsattribut, das entscheidend ist: die Konvertibilität. Die Konvertibilität stellt sicher, dass immer dann, wenn die Dinge zu wackeln beginnen, die Möglichkeit besteht, diese Titel so schnell wie möglich in staatliches Geld umzuwandeln. Wenn beispielsweise der Wert von Finanztiteln, die ich geschaffen habe, abzustürzen droht.

Konvertibilität bedeutet also, dass ich mein Eigentum jederzeit in nützlicher Frist in Zentralbankgeld umtauschen kann?

Die Wandelbarkeit in staatliches Geld ist entscheidend, weil staatliches Geld seinen Nominalwert nicht verliert. Geld kann zwar seinen Realwert verlieren, das entdecken wir in den heutigen Zeiten der Inflation gerade wieder. Aber auch der gesicherte Nominalwert ist wichtig. Selbst wenn in einer Wirtschaftskrise quer durch alle Asset-Klassen ein starker Preiszerfall stattfindet, bleibt der Nominalwert von Geld erhalten, weil da die Staaten mit ihrer Wirtschafts- und Fiskalmacht dahinterstehen. Wenn ich in Zeiten der Krise meine Assets schnell genug in Geld umwandeln kann, habe ich die Gewinne, die ich bisher gemacht habe, erst einmal gesichert. Dann warte ich die Krise ab, und wenn sie vorüber ist, investiere ich mein Geld von neuem. Die Fähigkeit, geschützt durch einen Abschwung zu kommen, ist ein Attribut von Kapital. Für Landbesitz war die Dauerhaftigkeit wichtig. Für Finanzkapital ist die Konvertibilität zentral. Schliesslich gibt es noch ein viertes, essenzielles Attribut: die Universalität. Damit ist gemeint, dass rechtliche Ansprüche auch wirklich verbindlich sind und zur Not mit staatlichen Zwangsmitteln durchgesetzt werden können.

Die Universalität wirft auch die Frage der internationalen Durchsetzbarkeit auf. Rechtsansprüche waren ursprünglich häufig auf ein Staatsgebiet beschränkt.

Sie hat insofern eine internationale Dimension, als es zunehmend möglich geworden ist, dass ich eine Rechtsposition, die ich unter einer bestimmten Rechtsordnung geschaffen habe, sagen wir mal, unter englischem oder New Yorker Recht, auch in der Schweiz durchsetzen kann.

Weil die globalisierte Wirtschaft darauf angewiesen ist?

Viele Leute denken, Globalisierung bedeute, dass wir uns ausserhalb des Staates und deshalb häufig auch in rechtsfreien Räumen bewegen. Andere argumentieren, für die Globalisierung bräuchten wir eine Art globalen Staat oder jedenfalls globales Recht und supranationale Instanzen, die dieses durchsetzen. De facto ist eine globalisierte Finanz- und Wirtschaftsordnung aber auch dann möglich, wenn nur eine einzige nationale Rechtsordnung ihre Institutionen zur Verfügung stellt, um die Rechtsmodule zu garantieren, von denen wir gesprochen haben. Bedingung ist lediglich, dass alle anderen Rechtsordnungen diese Module anerkennen und ihre eigene Zwangsgewalt zur Verfügung stellen, um diese ihrerseits durchzusetzen. Das ist dann nicht ein supranationales, sondern ein hegemoniales Modell. Eine einzige Rechtsordnung reicht – solange alle anderen sagen: Was ihr macht, ist für uns verbindlich.

Und was wird in der heutigen Welt jetzt umgesetzt?

Tatsächlich gibt es heute nicht eine, sondern zwei Rechtsordnungen, die dominieren.

Wir sind also ziemlich nahe am hegemonialen Modell?

England wie auch die USA – und dort vor allem das Recht des Staates New York für Finanzinstrumente und des Staates Delaware für Gesellschaftsrecht – sind sehr dominant. In den USA bilden die Bundesstaaten die massgeblichen Rechtsgebiete, deshalb der Staat New York. Und dann ist eben auch das englische Recht sehr wichtig. Gemäss diesen beiden Rechtsordnungen wird in der globalen Wirtschaft das Kapital codiert. Und in allen anderen Ländern versuchen die Anwälte, diese beiden Rechtsordnungen nachzuvollziehen oder ihren Mandanten einfach zu sagen: Wählt für euer Unternehmen englisches Recht oder amerikanisches Recht. Ich kann ja hier aktiv sein, mein Unternehmen aber in Delaware inkorporieren. Oder in London. Oder ich kann auch in London tätig sein und mich in der Schweiz inkorporieren, zum Beispiel, um bestimmte Finanzregulierungen zu umgehen. Da wir diese Trennung geschaffen haben zwischen faktischer Tätigkeit und Unternehmensstandort – eben weil Beständigkeit im Recht codiert und die Trennung von verschiedenen Vermögenswerten ermöglicht wurde –, sind solche Modelle anerkannt, obwohl es sich nur um rechtliche Arbitrage handelt.

Aktuell haben wir eine Änderung des Rechts auf breiter Front: die Sanktionen gegen russische Oligarchen. Dass man Vermögen von Diktatoren einfriert, kommt gelegentlich vor, selbst in der Schweiz. Aber dass nun Privatbesitz im grossen Stil beschlagnahmt wird von Geschäftsleuten, die einem bestimmten Staatsoberhaupt nahestehen, ist ungewöhnlich. Da werden Eigentumsrechte, die sonst konsequent verteidigt werden, plötzlich gekippt. Was sagen Sie dazu?

Es gibt Rechtsordnungen wie zum Beispiel die deutsche, die sogar explizit festhalten: Eigentum ist geschützt, aber es muss zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen. Man darf sich schon fragen: Für welche Zwecke stellt eine Rechtsordnung staatliche Zwangsgewalt zur Anerkennung und Sicherung von Eigentum überhaupt zur Verfügung? Kann jeder sich einfach nehmen, was innerhalb des gesetzlichen Rahmens möglich ist, wie im Selbstbedienungsladen? Oder gibt es Grenzen? Und jetzt sehen wir: Es gibt eben Grenzen, zum Beispiel, wenn gewisse Rechtsinstitute missbraucht werden, um Geld zu waschen und das Vermögen von Leuten zu schützen, die Vertraute eines Staatspräsidenten sind, der gerade einen Vernichtungskrieg gegen sein Nachbarland führt. Da kommt der Gedanke des Allgemeinwohls auf einmal wieder zum Tragen, auch wenn er offiziell weder in der amerikanischen noch in der englischen Rechtsordnung so explizit ausgesprochen wird wie in der deutschen Verfassung. Rechtsordnungen sind letztlich eine gesellschaftliche Entscheidung. Den Einzelnen will man weitgehende Wirtschaftsfreiheit und Rechtssicherheit zugestehen, aber ein Kern von Wechselseitigkeit – dass nicht nur die Gesellschaft dem einzelnen Bürger das Recht garantiert, sondern dass die Rechte des Einzelnen auch dem Gemeinwohl dienen müssen – ist dennoch vorhanden.

Es gibt also so etwas wie einen normativen Kern der Rechtssysteme, der im Normalbetrieb vergessen geht?

Es sind die Grundnormen der Gesellschaft, die im Rechtssystem institutionalisiert werden müssen. Allerdings: Im wirtschaftlichen Bereich haben wir weitestgehend die Anknüpfung an Grundnormen aus dem Recht herausgenommen. Wir haben uns an den Gedanken gewöhnt – er wurde uns ja auch ständig suggeriert –, dass Eigentum eine Position ist, die einen Bestandesschutz hat, der unangreifbar ist, weil sonst die ganze Rechtsordnung sofort über den Haufen geworfen würde. De facto, das zeigt eben auch die Rechtsgeschichte, ist es natürlich viel komplizierter.

Um noch einmal zu den Oligarchen zu kommen: Häufig wird jetzt von den Befürwortern der Sanktionen argumentiert, dass deren Eigentum illegitim sei, weil es in einem korrupten System erwirtschaftet wurde. Kleptokraten, so heisst es, seien nicht zu schützen. Das wirft jedoch die Frage auf: Warum haben wir ihr Eigentum bis jetzt geschützt?

Guter Punkt. Es ist sehr problematisch, sich immer nur dann daran zu erinnern, dass Eigentum etwas ist, das auch den Eigentümer der Gesellschaft gegenüber verpflichtet, wenn sich eine schwere wirtschaftliche oder politische Krise ereignet. Wir müssten generell viel genauer hinschauen und unsere normativen Prinzipien, die aus der Rechtspraxis verdrängt worden sind, allgemein viel entschlossener affirmieren. Russland ist in diesem Zusammenhang sehr erhellend: Natürlich trifft es zu, dass in Russland die Korruption verbreitet ist und dass viele russische Vermögen auf zweifelhaftem Weg entstanden sind. Ich habe mich in den 1990er-Jahren intensiv mit Russland beschäftigt und diese Entwicklung genau verfolgt. Aber bezeichnend war eben auch: Die Russen haben damals blitzschnell vom Westen gelernt. London ist nicht umsonst zu einer Geldwäscheanlage für Oligarchengelder geworden. Die heute denunzierten Kleptokraten haben sich der dort bereitstehenden Rechtsinstrumente bedient, um ihre Vermögen in Sicherheit zu bringen. Es sind dieselben Rechtsinstrumente, deren sich auch das westliche Kapital bedient. Es wäre sicher falsch, die Oligarchen mit dem Verweis auf Rechtssicherheit heute weiter schützen zu wollen. Aber wir sollten uns den Spiegel selber vorhalten und uns fragen: Welche Rolle spielen diese Rechtsmodule in unserer Wirtschaftspraxis?

Portrait von Barbara Alper

Foto: Barbara Alper

Katharina Pistor hat in Freiburg im Breisgau sowie in Hamburg Rechtswissenschaften studiert und ist heute Edwin B. Parker Professor of Comparative Law und Direktorin des Center on Global Legal Transformation an der Law School der Columbia University in New York. Ihr Buch «Der Code des Kapitals. Wie das Recht Reichtum und Ungleichheit schafft» ist in deutscher Übersetzung im November 2020 bei Suhrkamp erschienen. Die englische Ausgabe «The Code of Capital. How the Law Creates Wealth and Inequality» wurde 2019 von der «Financial Times» in der Sparte Wirtschaft auf die Liste der besten Bücher des Jahres gesetzt.

Dieses Interview erschien am 19. August 2022 und wurde mit Erlaubnis der Republik für dieses Projekt verwendet.

Die Menschen
Eine Übersicht

Antonia Steger

Antonia Steger

Urban Equipe

Kommentatorin

Daniel Binswanger

Daniel Binswanger

Republik

Autor

Diana Frei

Diana Frei

Strassenmagazin Surprise

Autorin

Fabian Stöckli

Fabian Stöckli

Gruppe Planung

Franziska Zibell

Franziska Zibell

Raum8vier GmbH

Kommentatorin

Lars Kaiser

Lars Kaiser

Urban Equipe

Kommentator

Laura Iseli

Laura Iseli

Prozessbegleitung Soziologie

Kommentatorin

Lena Wolfart

Lena Wolfart

Denkstatt sàrl

Kommentatorin

Michael Töngi

Michael Töngi

Nationalrat Grüne (LU)

Autor

Ramon Casutt

Ramon Casutt

Konova AG / E-Mitwirkung

Autor

Silas Hobi

Silas Hobi

UmverkehR

Autor

Simon Nussbaumer

Simon Nussbaumer

PLANAR

Kommentator

Tim Van Puyenbroeck

Tim Van Puyenbroeck

Kontextplan AG

Kommentator

Tobias Sonderegger

Tobias Sonderegger

Metron Raumentwicklung AG

Kommentator

Wenzel Haller

Wenzel Haller

Zentrum für Anarchie Aarau

Autor

Impressum

Kontakt

Projektgruppe KPK
Lars Kaiser
Urban Equipe
Erismannstrasse 31
8004 Zürich

Umsetzung

Parallactic GmbH
www.parallactic.ch